Prof. Dr. Ernst Peter Fischer im Gespräch mit Klaus Heid und Ruediger John
Konstanz, 26. Juli 2002

»Wissenschaft ist eine Ansammlung von Geheimnissen«

Ernst Peter Fischer (55) lebt in Konstanz, an einer der schönsten Uferpromenaden des Bodensees. Sie ist gesäumt von Villen aus verschiedenen Jahrhunderten mit gepflegten Gärten und Parks. Ernst Peter Fischer selbst wohnt in einem Mehrfamilienhaus. Die großzügigen Panoramafenster des Wohnzimmers öffnen den Blick auf einen dicht bewachsenen Garten. Draußen ist es heiß, im Fernseher läuft das Weltmeisterschaftsspiel Brasilien gegen die Türkei. Die letzte Viertelstunde bis zum Abpfiff schauen wir zu, bevor unser Gespräch beginnt.

Ernst Peter Fischer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz, studierte Mathematik und Physik in Köln, Biologie am California Institute of Technology. Fischer schafft es, wie kaum ein anderer, in seinen Büchern und Vorträgen ein spannendes, transparentes und hintergründiges Bild von Wissenschaft und Wissenschaftlern zu zeichnen. »Wer sind die Menschen, die die Wissenschaft machen? Was wissen wir über ihr Leben, ihr Werk, ihre Privatheit?« (Aristoteles, Einstein & Co., 1995). Fischer möchte wissenschaftliche Forschung und deren >stille Stars< öffentlich machen und plädiert darüber hinaus für eine >ästhetisch orientierte Wissenschaft<, da »wir die Welt nicht nur über Begriffe, sondern vor allem mit unseren Sinnen wahrnehmen müssen« (Das Schöne und das Biest, 1997).

Die moderne Wissenschaft beeinflusst unser Leben tiefgreifend, sowohl in ihren theoretischen, als auch in ihren praktischen Auswirkungen. Dennoch wird beispielsweise in dem Buch >Bildung – alles was man wissen muss< des Literaturprofessors Dietrich Schwanitz die Naturwissenschaft vollständig ausgeklammert. Ein Small Talk über die Konsequenzen aus den Erkenntnissen der Quantenphysik ist undenkbar – es sei denn, man befände sich auf einer von Teilchenphysikern organisierten Party. Trotzdem sollen mündige Bürger über die neuesten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik urteilen und entscheiden.

Wie viel Wissenschaft braucht ein gebildeter Mensch? »Er braucht«, so Ernst Peter Fischer, »soviel Wissenschaft, dass er in der Lage ist, die Betrachtung und Diskussion ihrer Inhalte zu genießen, um dabei zu verstehen, dass Wissenschaft in ihm steckt und zu ihm – und damit zum Menschen allgemein – gehört. Nur aus dieser Verbindung kann die Anteilnahme – die Dialogbereitschaft – entstehen, die nötig ist, damit alle die Verantwortung übernehmen können, die Wissenschaft heute benötigt.« Mit seinem aktuellen Buch >Die andere Bildung< trägt Ernst Peter Fischer nicht nur im besten Sinne zu einer Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis bei, er plädiert darin auch dafür, Wissenschaft als Kunst zu denken.

[...]

Professor Fischer, der Literaturprofessor Dietrich Schwanitz schreibt in seinem Buch >Bildung – alles was man wissen muss<: »Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelernt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. [...] So bedauerlich es manchen erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.« Ihr Buch >Die andere Bildung< haben Sie offensichtlich als Reaktion auf das Schwanitz-Buch geschrieben ...

Ernst Peter Fischer: Nein, das ist nicht ganz richtig. Es gab unabhängig von dem Buch eine Einladung von der Universität Basel, eine Vorlesungsreihe mit dem Titel >Naturwissenschaftliche Bildung< zu halten. Die lief bereits, als das Buch von Herrn Schwanitz erschien – und ich hatte auch die Texte zu einem Buch bereits anvisiert, nur sollte es anders heißen, nämlich >Wissenschaft als Fenster<. Der Titel basiert auf einer Idee von Rilke, der meinte, das künstlerische Schaffen muss ein Fenster sein und kein Spiegel, es muss also etwas sein, wo man hindurchschauen kann auf die Welt. Dann hat der Verlag vorgeschlagen, man sollte das Buch besser >Die andere Bildung< nennen, dann wüssten die Buchhändler, dass sie das Buch neben den Band von Schwanitz stellen müssen.

Wie auch immer, wenn man die ...

Ernst Peter Fischer: Das Buch trifft in eine Zeit, in der offenbar ein Bedürfnis nach Bildung vorhanden ist. Allerdings kann man naturwissenschaftliche Bildung, anders als bei der Bildung, die Herr Schwanitz meint, nicht im Kanon abfragen. Die Naturwissenschaft ist ein amorphes Gebilde, in dem es keinen Werkekanon gibt, wo es auch keinen Nachschlagekatalog gibt, sondern man muss sich da selbst hinein wühlen und auswählen.

Aber Stars, an denen man sich orientieren kann, gibt es in der Naturwissenschaft ja durchaus.

Ernst Peter Fischer: Gerade nicht!

Bitte? Newton, Einstein ...

Ernst Peter Fischer: Gut, selbst wenn Ihnen mehr einfallen: Lesen Sie die im Original?

Nein

Ernst Peter Fischer: Das ist der Punkt, es geht um die Originale. Bei den Naturwissenschaften steht man, anders als bei der Kunst, nie dem Original gegenüber. Sie stehen nur einem Abguss, einer Erklärung des Originals gegenüber – als könnten Sie nie Van Goghs Bilder sehen, sondern nur eine Erklärung eines Kunsthistorikers über dessen Bilder, als könnten Sie Goethes Faust nicht im Original lesen, sondern nur als Nacherzählung. Das macht den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft aus: In der Kunst geht man immer zum Original zurück. In der Wissenschaft versucht man, das Original zu überwinden. Wenn Sie Goethe verstehen wollen, müssen Sie Goethe lesen, wenn Sie Newton verstehen wollen, müssen Sie ein Lehrbuch der Physik lesen. Wenn Sie Darwin verstehen wollen, müssen Sie Ernst Mayr lesen, und wenn Sie Ernst Mayr verstehen wollen, müssen Sie vielleicht mich lesen (lacht). Bei der Kunst ist man auf ein Werk erpicht – man liest das Gedicht, man betrachtet das Bild. Bei der Naturwissenschaft sind Sie auf den Inhalt aus. Sie suchen nicht das Werk, sondern das Modell, nicht die Arbeit, sondern die Theorie. Was hat Einstein uns gesagt? wird gefragt – und nicht: Wie hat er es gesagt? Bei der Kunst kommt es darauf an, wie uns etwas gesagt wurde. Die Naturwissenschaft muss auch unter diesem Aspekt betrachtet werden. Sie muss sich fragen lassen: Wie erzeugen wir gewissermaßen einen Stil? Jeder Wissenschaftler hat seinen Stil. Wenn Sie trainierter Physiker sind, dann können Sie sofort unterscheiden, ob Sie eine Arbeit von Einstein oder von Boltzmann lesen. Die Frage ist nun, ob man den Stil nicht auch in der Wissenschaftsinterpretation unterbringen kann. Ich denke nämlich, dass das Publikum mehr an einer wahrnehmbaren Form interessiert ist als an einem nachdenkbaren Inhalt. Um das zu erreichen, müsste man allerdings eine eigene Richtung schaffen. Ich würde sie gerne >Wissenschaftsgestaltung< nennen. Das Ziel ist, dem Wissenschaftswerk so gegenüber treten zu können, wie man einem Kunstwerk gegenüber treten kann, wie man einem Drama im Zuschauerraum des Theaters gegenüber sitzen kann.

[...]

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