Suggestofiktion
Klaus Heid

Eine Tour d’Horizon über die Konstruktion von Wirklichkeiten in Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft – sowie der Praxisbericht >Workshop Suggestofiktion<

Mit etwa vier Jahren begreifen und beschreiben Kinder die Welt schon recht souverän. Sie haben ihren sprachlichen Ausdruck so weit gefunden, dass sie ihre Vorstellungen und Erfahrungen mitteilen und diskutieren können. Sie setzen ihre eigene Meinung gegen die der anderen und erproben Argumentationsstrategien. Sie erkunden die Dinge um sich herum längst nicht mehr nur mit ihren Sinnen, sondern reflektieren sie mittels Sprache. Sie finden Spaß an der Abstraktion, sprechen nicht nur über die sichtbare Welt, sondern auch ganz selbstverständlich über Gott, Geister, Feen und andere unsichtbare Wesen. In dieser Lebensphase beginnen die Kinder mit einem faszinierenden Spiel, es heißt >Verkehrte Welt<. Vögel schwimmen unter Wasser, das über unseren Köpfen plätschert, und die Fische schwimmen in einem Himmel, in dem wir spazieren gehen. Stuhl heißt jetzt Nudel, Nudel heißt Stein, Stein heißt Schlange – oder umgekehrt.

Mit >Verkehrte Welt< machen Kinder zwei wesentliche Erfahrungen. Zum einen stehen sie nun wirklich im Mittelpunkt, die Welt dreht sich um sie selbst. Das hat sie zwar in den meisten Fällen spätestens seit ihrer Geburt getan, zumindest hat ihr Auftritt das Leben der Eltern fundamental verändert. Doch dass sie selbst der Mittelpunkt sind, das stellen sie jetzt mit Sprachfertigkeit und -witz selbstbewusst fest. Sie haben die Definitionsmacht. Sie können die Welt nach ihrer Vorstellung formen. Die zweite fundamentale Erfahrung ist, dass >Verkehrte Welt< nicht nur Spaß macht, sondern die Kommunikation auch erheblich erschwert. Man kann Dinge nach eigenem Gusto benennen, sobald man aber von ihnen mittels der neuen Bezeichnungen spricht, kann es zu ernsthaften Komplikationen kommen. Konfrontiert das Kind den Erwachsenen unvermittelt mit der Feststellung: »Schau mal, Papa, da liegen ganz viele Schlangen im Garten!«, kann das Spiel eine dramatische Wendung annehmen: Der Vater reißt das Kind hoch, bringt es in Sicherheit und stürmt mit einer Schaufel bewaffnet hinters Haus. Hätte er ausreichende Informationen über die neuen Benennungen gehabt, hätte er verstanden.

Der nächste Schritt ist, den Dingen eine Bedeutung zuzuschreiben. Denn wenn wir ein Ding benannt haben, ist damit noch nicht klar, was es für uns bedeutet. Ein Begriff ist ein Zeichen, das für etwas anderes steht – und es gibt verschiedene Klassen von Zeichen. Neben dem >Ikon<, einem Zeichen mit äußerer Ähnlichkeit zu dem bezeichneten Gegenstand (etwa seine Fotografie oder grafisch vereinfachte, aber erkennbare Darstellung), können Zeichen als >Index< und >Symbol< unterschieden werden. Die einfache Benennung eines Gegenstandes wird >Index< genannt. Vogel ist ein Index. Dass ein Vogel Vogel heißt, ist durch sprachliche Konvention geregelt. In anderen Ländern heißt er Bird oder Oiseau. Der Vogel kann aber auch zum >Symbol< werden. Er steht dann für Freiheit und Fernweh oder für Anhänger des katholischen Glaubens als weiße Taube für den heiligen Geist. Symbolische Zuordnungen entstehen aus kulturellen Prozessen und verleihen Dingen Bedeutungen. Das heißt aber auch, dass diese Bedeutungszuschreibungen verändert werden können. Wenn der rotgewandete Santa Claus mit Coca-Cola assoziiert wird, dann ist das eine moderne Zuordnung, die das Spiel mit Objekten und deren Bedeutungspotentialen treffend illustriert. Marketing und Kunst beherrschen dieses Spiel virtuos.

Motiv 1

Die Konstruktion von Wirklichkeiten und Weltbildern können wir auch mit dem Fachterminus >Suggestofiktion<1 bezeichnen. Wer sich die Fähigkeit zur Suggestofiktion bewahrt, sich zwischen Wirklichkeiten virtuos bewegen kann, hat beste Voraussetzungen, Künstler zu werden – muss aber nicht. Er hätte auch in der New Economy Karriere gemacht. Denn deren Hype ist das Premiumbeispiel dafür, wie die mittels Marketing gekonnt suggerierte und von Gier befeuerte Fiktion wirtschaftlichen Erfolgs selbst gestandene >Realisten< in außergewöhnliche Verwirrung stürzen kann.

Marketing und Werbung

Marketing und Werbung sind, neben der Kunst, eines der dankbarsten Felder für die Anwendung der Suggestofiktion. Heute sind wir in der >1. Welt< mit einer Produktpalette konfrontiert, die kaum existentielle Bedürfnisse anspricht. Die Dinge des täglichen Bedarfs sind allgemein erschwinglich. Und selbst in diesem Produktsegment wird uns eine Fülle von Marken angeboten, deren Inhalte ihre Existenz nicht rechtfertigen. Eine Zahnpasta ist von ihrer Substanz her ein relativ einfaches Produkt. Es sei denn man käme auf die Idee, sie mit farbigen Streifen zu versehen. Wozu? Das Zauberwort heißt USP, >Unique Selling Proposition<; für den Inhalt und die Wirksamkeit des Produkts ist die Streifenapplikation völlig unerheblich. Aber sie stellt einen Kaufanreiz dar, sie weckt ein, wie der Philosoph Gernot Böhme es nennt, >Begehrnis<.

Werbung ist Suggestofiktion pur. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es dabei nicht um Produktinformation geht, sondern um Image- und Markenbildung. Wenn Arnold Schwarzenegger für einen Energiekonzern einen Kühlschrank stemmt, dann ist klar, dass wir uns als Stromkunden nicht das Fitness-Studio sparen können. Vielmehr soll das unsichtbare Produkt >Strom< durch ein Power-Symbol bebildert werden. Die meisten Konsumenten sprach dieses Bild allerdings nicht an, denn die Kampagne brachte dem Unternehmen viel zu wenig Neukunden, als dass sie sich gelohnt hätte. Schwarzenegger scheint neben seiner Körperkraft noch andere, weniger attraktive Symbolinhalte zu transportieren. Die gewünschte Botschaft einer intelligenten Stromversorgung wurde von weniger vorteilhaften Kollateralbedeutungen überlagert.

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