Gesellschaft im Umbruch und die Erkenntnisbarrieren der kulturellen Experten
Andreas Weber

I Einleitung

1 Die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft
2 Das Problem des Verstehens

II Der Umbruch im Weltverständnis.

Zur Erkenntnissituation in der Moderne

1 Denken vom Vorrang der Natur
2 Der Umbruch des Weltverständnisses in seiner strukturlogischen Dimension
3 Die subjektivische und die prozessuale Logik
3.1 Zur Ontogenese der subjektivischen Logik als pristiner Form der prozessualen Logik
3.2 Die subjektivische Logik als Grundstruktur der Sprache
3.3 Der Strukturwandel der Logik im Prozess der Geschichte
3.3.1 Welt in der subjektivischen Logik
3.3.2 Welt in der prozessualen Logik
3.4 Die Barriere der absolutistischen Denklogik
4 Prozesslogik als kognitives Paradigma der kulturellen Moderne

III Die Erkenntnisbarrieren der kulturellen Experten

1 Kultur als System der modernen Gesellschaft
2 Die Erkenntnisbarrieren der kulturellen Experten
2.1 Die Erkenntnisbarrieren in der Philosophie
2.2 Die Erkenntnisbarrieren in der Kunst
2.3 Konvergenz der Erkenntnisbarrieren
3 Die Blockierung kultureller Lernprozesse
4 Die Funktion von Erkenntnisbarrieren im symbolischen Reproduktionsprozess gesellschaftlicher Macht
4.1 Die Angst vor Ohnmacht und das Begehren nach Macht: Kindheit als blinder Fleck
5 Exkurs: Das Unbehagen der kulturellen Experten in der Kunst
6 Kultur prozesslogisch verstehen

IV Erkenntnis und Politik

1 Neoliberalismus als Ideologie
2 Das Unvermögen der kulturellen Experten
3 Das Wissen der Zeit
4 Erkenntnis und Politik

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2 Das Problem des Verstehens

In der modernen Gesellschaft sind es die kulturellen Experten, die den modernisierungsbedingten Umbruch der soziokulturellen Lebensformen und damit auch der Subjektorganisationen kognitiv verarbeiten. Es ist dabei ausgeschlossen, dass die kulturellen Experten sich ausserhalb des gesellschaftlichen Prozesses stellen. Vielmehr sind sie nicht nur in biographischer und lebenspraktischer, sondern auch in historischer Dimension in einen gesellschaftlichen Bedingungszusammenhang immer schon eingelassen. Betrachten wir nun, wie die kulturellen Experten die Welt, in der wir leben, zu begreifen versuchen, so zeigt sich ein eigentümliches Phänomen. Obgleich nämlich die pragmatischen Lebensbedingungen in der modernen Gesellschaft sich immer stärker angleichen, scheinen die kulturellen Experten nicht in der Lage zu sein, sich auf ein erkenntnistheoretisch verbindliches Weltverständnis zu einigen. Für eine Vielzahl von ihnen ist es nicht nur ein Problem, den modernisierungsbedingten Geltungsverlust eines metaphysischen Weltverständnisses als Realität anzuerkennen. Auch die Frage, wie man nach dem Geltungsverlust der Metaphysik zu einer realistischen Erkenntnisgrundlage gelangen kann, stellt sie vor schier unlösbare Probleme. Und zwar deshalb, weil mit der Irrealisierung eines metaphysischen Absoluten die Erkenntnis verbunden ist, dass kognitive Konstruktionen subjektabhängige Gebilde sind. Mit der Einsicht, dass Welt ein subjektabhängiges Konstrukt ist, geht die radikale Relationierung von Erkenntnisansprüchen einher. Die Folge ist ein erkenntnistheoretischer Relativismus. Mit ihm können die kulturellen Experten auf Dauer schlecht leben. Denn er bedeutet die Entwertung ihrer Arbeit sowie ihrer berufsbiographisch ausgebildeten Identität. In einer Gesellschaft, in der Bildungskomplexe zur psychischen Normalität gehören, gibt es sicherlich keinen Grund, die Entzauberung der kulturellen Experten zu beklagen. Im Gegenteil. Sie ist notwendig, um von imaginären Sinnbildungsstrategien Abstand nehmen und den kulturellen Modernisierungsprozess voranbringen zu können. In einer sinnvollen Weise kann dies allerdings nur dann gelingen, wenn ein erkenntnistheoretischer Relativismus überwunden wird. Dazu sehen sich die kulturellen Experten gegenwärtig allerdings nicht in der Lage. Nicht wenige von ihnen haben deshalb damit begonnen, aus ihrer Not eine Tugend zu machen und die gleichzeitige Existenz strukturell differenter Weltdeutungen im kulturellen System der modernen Gesellschaft grundsätzlich positiv zu beurteilen. Kurzerhand wird behauptet, dass sich gerade ein modernes Weltverständnis in der Pluralisierung der Weltdeutungen sowie der Relativierung der Erkenntnisperspektiven manifestiere.21 Jeder Versuch, in einer kognitiv verbindlichen Weise zu klären, welches Weltverständnis gilt und welches nicht, wird deshalb auch abgelehnt oder als unbeantwortbar betrachtet. Denn wenn es richtig ist, so lautet die Argumentation, dass Erkenntnis ein subjektabhängiges Konstrukt ist, dann steht jeder Versuch, zu allgemeingültigen Erkenntnissen zu gelangen, unter Verdacht, die eigene Denkperspektive zu verabsolutieren sowie die Komplexität der modernen Erkenntnisproblematik zu trivialisieren. In einer theoretisch ausgesprochen elaborierten Form werden die hier angeschnittenen Probleme in der Luhmannschen Systemtheorie verhandelt. So hat Luhmann darauf hingewiesen, dass die weltgenerierenden Erkenntnisoperationen der kulturellen Experten immer schon in die Prozesse des gesellschaftlichen Lebens eingelassen sind. In den älteren sozialwissenschaftlichen Arbeiten war dieses Problem übersehen worden. Die Forscher gingen dort mit einer heute nicht mehr akzeptablen Naivität davon aus, dass sie die soziokulturellen Prozesse innerhalb einer Gesellschaft von einer absoluten, gesellschaftsunabhängigen Position aus betrachten können. Von derartigen Erkenntnisvorgaben auszugehen, ist heute allerdings nicht mehr möglich. Luhmann schreibt: »Der Forscher versteht sich selbst als Subjekt ausserhalb seines Themas. Im Bereich der Gesellschaftstheorie ist diese Art der Auffassung jedoch nicht durchzuhalten, denn die Arbeit an einer solchen Theorie verwickelt zwangsläufig in selbstreferentielle Operationen. Sie kann nur innerhalb des Gesellschaftssystems kommuniziert werden.«22

Gleichzeitig hat Luhmann im Zuge der Systemisierung der Erkenntnistheorie nun aber das Problem, auch das Denken der systemtheoretisch argumentierenden Subjekte radikal relationieren und bezüglich seines Erkenntnisgehaltes relativieren zu müssen. Gleichwohl ist Luhmann von einem Erkenntnisrelativismus weit entfernt. Für ihn gelten die naturwissenschaftlichen Theorien des physikalischen und biologischen Universums. Sie liegen der Systemtheorie erkenntnisparadigmatisch zugrunde. Darüberhinaus ist es Luhmann auch unzweifelhaft, dass die moderne Gesellschaft mit ihren funktional ausdifferenzierten Systemen zu einer globalen Realität geworden ist und es aus der strukturellen Organisation der modernen Gesellschaft heraus zu erklären ist, warum sowohl die traditionalen - mythischen, religiösen und metaphysischen - Semantiken23 als auch die posttraditionalen, abermals in »ontologischen Prämissen«24 fundierten Semantiken einen fortschreitenden Geltungsverlust erfahren haben und in der kognitiven Kultur der Moderne peu à peu durch ein differenzlogisches Paradigma ersetzt werden.25 Warum das so ist, glaubt Luhmann jedoch nicht mehr klären zu können. Letztlich sieht auch er sich gezwungen, den Erkentnisgehalt der Systemtheorie radikal zu kontextualisieren und als kontingent, also: als eigentlich auch ganz anders möglich, einzustufen: »Auch die Systemtheorie«, so heisst es bei Luhmann, ist »genötigt, sich selbst als kontingent zu erfahren.«26 Die erkenntnistheoretischen Probleme, in die Luhmann sich in einer äusserst elaborierten Form verstrickt hat, sind durchaus symptomatisch für die kulturellen Experten insgesamt. So kann man feststellen, dass ein kontextabhängiger Subjektivismus allerorts antreffen ist. Er hat gegenwärtig Hochkonjunktur. Er gründet argumentationslogisch in der Verabsolutierung der individuellen Erkenntnisperspektiven und ist mit einem imaginären Authentizitätsverständnis strukturlogisch verbunden. Darüberhinaus geht mit der Relativierung der Erkenntnisperspektiven auch der Entpolitisierungsprozess der kulturellen Experten einher, zumindest wird er dadurch begünstigt. Denn, um es mit Luhmann27 auszudrücken: wer nicht mehr bestimmen kann, ob er auch das meint, was er sagt, der muss nicht nur den Erkenntnisgehalt soziologischer Argumentationen offen lassen, sondern ist auch nicht mehr in der Lage zu klären, unter welchen Bedingungen die Subjekte in der modernen Gesellschaften lernen können, sich kognitiv realistisch und lebenspraktisch widerständig zu organisieren. Hieraus wird ersichtlich, dass der Systemtheoretiker Luhmann und mit ihm die Mehrzahl der kulturellen Experten der Gegenwart in einer eklatanten erklärungslogischen Sackgasse verharren. Will man ein realistisches Verständnis der modernen Gesellschaft sowie der komplexen Ambivalenzen der modernen Subjektbildungsprozesse gewinnen, muss man sich aus ihr befreien. Dies ist durchaus möglich, setzt allerdings voraus, sich der historischen Dimension der aktuellen Erkenntnis- und Verstehensproblematik bewußt zu werden. Ich werde deshalb (Kap. II) zunächst den Umbruch im Weltverständnis, wie er in der modernen Gesellschaft zustandegekommen ist, darlegen und in seiner strukturlogischen Dimension explizieren. Es wird zu zeigen sein, dass es in der kognitiven Moderne zu einem Wandel der Logik des Weltverstehens gekommen ist: ein subjektivisch begründetes Verständnis der Welt wird durch ein prozessuales ersetzt. Die Durchsetzung eines prozesslogischen Welt- und Selbstverständnisses wird in weiten Teilen der kognitiven Kultur der modernen Gesellschaft gegenwärtig aber durch ein absolutistisch begründetes und authentizitätszentriertes Denken blockiert. In welcher Weise (Kap. III) sich die Barriere der absolutistischen Denklogik unter den kulturellen Experten der modernen Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein erhalten hat, wird anhand der Semantiken künstlerisch und wissenschaftlich arbeitender Subjekte, vornehmlich aus dem Bereich der Philosophie, dargestellt. Darüberhinaus wird der Versuch unternommen, die bildungs- und gesellschaftspolitischen Implikationen zu umreissen, die mit der Permanenz der absolutistischen Erklärungslogik innerhalb der kognitiven Kultur der Moderne verbunden sind. Schliesslich (Kap. IV) wird der politischen Dimension, die mit dem Strukturwandel des Denkens verwoben ist, nachgegangen. Will man, so die These, das Denken der Vertreter des Neoliberalismus als Ideologie transparent machen, dann ist es notwendig, das Gesellschafts- und Subjektverständnis zu prozessualisieren. Einzig so wird es möglich sein, die neoliberale Reduktion von Gesellschaft auf Ökonomie nicht in einer moralisierenden, sondern in einer gegenüber den eigenen Erkenntnisbedingungen selbstreflexiv prozessierenden Weise zu kritisieren. Dadurch wird es auch möglich, das Verhältnis von Politik, Moral und Gesellschaft präziser zu bestimmen.

21 In den Arbeiten des Philosophen Wolfgang Welsch wird diese Position vertreten. Vgl. Wolgang Welsch (19932), Topoi der Postmoderne, in: Fischer, Hans-Rudi/Retzer, Arnod/Schweitzer, Jochen (Hrsg.), Das Ende der grossen Entwürfe, Frankfurt/M.; ders. (19933), Ästhetisches Denken, Stuttgart.
22 Luhmann (1997), a.a.O., S. 17.
23 Vgl. Niklas Luhmann (1987), Lässt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?, in: ders., a.a.O., S. 227ff.
24 Luhmann (1995), Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche
Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, S. 171.
25 Zum neuzeitlichen Deontologisierungsprozess des Weltverständnisses sowie der Genese eines differenzlogischen Denkens vgl. Niklas Luhmann (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2, S. 866ff.
26 Niklas Luhmann (1984), Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
27 vgl. Niklas Luhmann (1988), Wie ist das Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfuft/M., S. 884ff.

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6 Kultur prozesslogisch verstehen

In der kognitiven Kultur der modernen Gesellschaft, insbesondere in den Wissenschaften, ist es zu einem radikalen Geltungsverlust des traditionalen Weltbildes gekommen. Dieser Vorgang kann in seiner strukturlogischen Dimension verständlich gemacht werden. So wird es den Subjekten in der modernen Gesellschaft im Zuge der ontogenetischen Entwicklung der formalen Organisationskompetenzen, die zur praktischen Lebensorganisation notwendig sind, nach und nach möglich, die Geltung der ontogenetisch und historisch pristinen subjektivischen Logik erkenntniskritisch zu überwinden und ein prozesslogisches Denken auszubilden. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass es bislang noch nicht gelungen ist, im kulturellen System der modernen Gesellschaft ein prozesslogisches Denken systematisch durchzusetzen. Vielmehr können wir feststellen, dass gerade auch die kulturellen Experten, die den Reflexionsprozess von Welt professionell betreiben, der pristinen Logik verhaftet geblieben sind. Sie hält sich in der Gestalt metaphysischer und nachmetaphysischer Verabsolutierungen argumentationslogisch durch. So wird in Teilen der Wissenschaft und Kunst, aber auch in Teilen der etablierten Bildungs- und Kulturpolitik sowie der massenkulturellen Bewegungen der modernen Gesellschaft weiterhin an einem metaphysischen Weltverständnis festgehalten. Wird es unglaubwürdig, dann beginnt an seine Stelle ein nachmetaphysischer Absolutismus zu treten. Er geht mit einem imaginären Authentizitätsverständnis, das sich in semantisch differenten Formen zum Ausdruck bringen kann, strukturlogisch zwingend einher. Solange dies der Fall ist, ist es ausgeschlossen, ein realistisches Verständnis des gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierungsprozesses zu gewinnen. Insbesondere die Ambivalenzen, die mit dem modernisierungsbedingten Erosionsprozess soziokultureller Lebensformen einhergehen und von den Subjekten im Medium des Symbolischen in einer lebenspraktisch als auch biographisch konstruktiven Form verarbeitet werden müssen, bleiben unbegriffen. Notwendig ist es deshalb auch, im kulturellen System der modernen Gesellschaft den kognitiven Modernisierungsprozess voranzutreiben und unter den kulturellen Experten »die Logik dieser relationalen und transformationellen Denkweise«192 durchzusetzen. Im folgenden Kapitel werde ich versuchen, die gesellschaftspolitische Bedeutung zu umreissen, die dem Strukturwandel der Denklogik zukommt. Dies soll zunächst anhand einer kritischen Analyse der Ideologie des Neoliberalismus dargelegt werden.

IV Erkenntnis und Politik

1 Neoliberalismus als Ideologie

In den Debatten um die Entwicklungstendenzen eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, der in globaler Dimension voranschreitet, dominieren die Diskurse des Neoliberalismus.193 Obgleich sie an gesellschaftspolitischer Phantasielosigkeit und theoretischer Substanzlosigkeit nicht zu übertreffen sind, haben sie auch in der Politik ungemein an Bedeutung gewonnen.194 Im Kern lauten die Forderungen der Vertreter des Neoliberalismus, dass sich die nationalstaatliche Politik der Gesellschaft stärker an den Imperativen der Ökonomie zu orientieren und das neoliberale Programm, das da lautet: »Mehr Markt, weniger Staat«195, konsequent umzusetzen habe. Einzig durch die Flexibilisierung der Produktions- und Beschäftigungsstrukturen, die Deregulierung einer staatlich regulierten Modernisierung sowie die Privatisierung staatlich verwalteter Sektoren (Wohnungsmarkt, Verkehr, Kommunikation, Medien, Gesundheit, Bildung, Sicherheit usw.) sei es möglich, dem zentralen Problem der Gegenwart, nämlich einer seit den 70er Jahren enorm gestiegenen Massenarbeitslosigkeit und der mit ihr verbunden Kosten, Herr zu werden.196 Bedeutsam ist dabei, dass in der Perspektive der Neoliberalen das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht als strukturelles Problem eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses wahrgenommen wird, der von der Sachlogik der kapitalistischen Systemökonomie dominiert wird. Vielmehr betrachten die Neoliberalen Massenarbeitslosigkeit als ein temporäres Problem, das seinen zentralen Grund in der Höhe der Lohnkosten hat. »Die neoliberalen Theoretiker«, so Rupert Weinzierl, »gehen davon aus, dass Arbeitslosigkeit nur aus einem einzigen Grund, nämlich einem zu hohen Lohnniveau entstehen kann.«197 Gelingt es, die Lohnkosten zu reduzieren, dann wird nach Meinung der Neoliberalen die Massenarbeitslosigkeit automatisch verschwinden. Da die Lohnkosten vor allem durch die gesteigerten Sozialabgaben in die Höhe getrieben werden, wird es desweiteren für notwendig erachtet, die sozialstaatlichen Leistungen abzubauen.198 Einzig durch den Abbau des Sozialstaates werde es möglich, das Problem der Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und im Zuge einer allmählichen Verringerung der Staatsverschuldung die sozialstaatlichen Sicherungssysteme, wenngleich in einer zusammengeschrumpften Gestalt, zu retten. Auch wenn die neoliberalen Argumentationen in einigen Punkten zunächst plausibel erscheinen, so belegen doch die realen gesellschaftlichen Entwicklungen, dass ihnen die empirische Basis fehlt. Tatsächlich ist es so, dass das globale Problem der Massenarbeitslosigkeit allein durch die Reduzierung der Lohnkosten sowie die Steigerung des Wirtschaftswachstums nicht in den Griff zu bekommen ist.199 Inzwischen hat die technologische Modernisierung der Ökonomie einen Entwicklungsstand erlangt, der ein beschäftigungsneutrales Wirtschaftswachstum ermöglicht. Ein Ende des technologischen Modernisierungsprozesses oder gar der Abbau bisher implementierter Technologien wird selbst dann nicht zu erwarten sein, wenn die Lohnkosten drastisch sinken. Der technologische Modernisierungsprozess ist nicht zu stoppen, er ist ein systemimmanentes Merkmal des ökonomischen Modernisierungsprozesses. Nicht nur die historisch erfolgte technologische Modernisierung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion vermag dies zu verdeutlichen, sondern auch die Rationalisierungsprozesse, die gegenwärtig im Dienstleistungssektor zu beobachten sind. Darüberhinaus wird es durch den Globalisierungsgrad der Ökonomie möglich, die arbeitsintensiven Produktionsprozesse, die technologisch nicht zu rationalisieren sind oder deren Rationalisierung gegenwärtig noch zu teuer ist, in die Länder zu verlagern, in denen die Lohnkosten aufgrund fehlender sozialstaatlicher oder ökologischer Standards gering sind.200 Wenn nun aber Massenarbeitslosigkeit nicht nur ein temporäres, sondern eben ein strukturelles Folgeproblem eines global expandierenden Kapitalismus ist, dann läuft der Abbau der sozialstaatlichen Sicherungssysteme faktisch auf die Individualisierung systemischer Problemlagen hinaus. In der gesellschaftspolitischen Argumentation der Neoliberalen wird dieser Punkt ignoriert. Statt dessen wird der Mythos des autonomen, sein Leben absolut selbstständig organisierenden Subjekts hochgehalten. Die Menschen müssen wieder lernen, so verkünden es Wissenschaftler in Beamtenposition, mehr Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Sie müssen wieder lernen, die Risiken moderner Lebensführung selbstständig zu bewältigen. Die Protagonisten einer neoliberalen Modernisierungspolitik übersehen dabei jedoch beharrlich, dass sich die Organisation der modernen Gesellschaft von den Lebenspraxen der Menschen in einer strukturell irreversiblen Weise abgekoppelt hat. Die Menschen dafür verantwortlich machen zu wollen, dass sie sich nicht an die Ökonomie ankoppeln können und deshalb ohne Erwerbsarbeit und Einkommen sind, ist insofern auch schiere Ideologie. Tatsächlich wissen wir, dass die Ausdifferenzierung sozialstaatlicher Sicherungssysteme seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer politischen Notwendigkeit geworden ist, um den katastrophalen Folgen einer kapitalistisch dominierten Modernisierung effektiv entgegenzuwirken zu können. Dabei waren weniger moralische, sondern machtpolitische Gründe von Bedeutung. In erster Linie, weil von den Millionen arbeitslosen Menschen, die es in den europäischen Industrienationen des 19. Jahrhunderts gab und die nichts mehr zu verlieren hatten als ihr nacktes Leben, ein brisantes Konfliktpotential ausging, haben die politischen und ökonomischen Eliten die Ausbildung eines sozialstaatlichen Sicherungssystems vorangetrieben. Wäre es nicht zu der sozialstaatlichen Kompensation der systemischem Amoral einer kapitalistischen Modernisierung gekommen, dann wäre die Gefahr politischer Revolutionen in den einzelnen Nationalstaaten enorm gestiegen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist der Sozialstaat im politischen System der Demokratie verfassungsrechtlich verankert worden und hat hinsichtlich der moralischen Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols einen beständigen Bedeutungszuwachs erfahren.

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