Prof. Dr. Jürgen Wertheimer im Gespräch mit Ruediger John
Tübingen, 9. August 2002

»Man könnte eine kommunikative Prävention starten«

Auf dem Weg zum Deutschen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und den Räumen der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft habe ich ausführliche Gelegenheit, das 70er-Jahre-Gebäude in seiner überkommenen Aesthetik und mit seinen studentischen Gebrauchsspuren zu bewundern. Im Büro von Jürgen Wertheimer (55) schließlich scheint die Fülle gedruckter Unterlagen und Bücher, sorgsam gestapelt, emblematisch das wesentliche Medium der Komparatistik widerzuspiegeln. Er führt noch eben ein Telefonat, dessen zwangsläufig mitgehörter Inhalt mich erraten läßt, daß sein neues Buch >Kulturkonflikte<, aus dem er in diesem Interview unter anderem auch ein Beispiel entlehnt, nun endlich erscheinen wird.

Der für seine deutlichen Worte geschätzte oder gefürchtete Autor und Herausgeber, dessen zum Teil erfrischend pamphletische Sprache gängige Oberflächlichkeiten und Tabuisierungen aufbricht, fordert unter anderem eine kritischere Haltung gegenüber den Medien und die Förderung von Reflexionsfähigkeit als eine der Aufgaben in der Ausbildung.

Herr Prof. Wertheimer, in der gesellschaftlichen Alltagspraxis ist eine Tendenz der Vereinfachung der Inhalte bemerkbar. Sie haben dieses Phänomen auch in ihrem Buch >Strategien der Verdummung – Die Infantilisierung in der Fungesellschaft< beschrieben. Warum spielen eigentlich die jahrhundertealten und natürlich die aktuellen Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und anderen Wissenschaften in der gesellschaftlichen Lebenspraxis kaum eine Rolle?

Jürgen Wertheimer: An welche Erkenntnisse denken Sie?

Beispielsweise an >Aisthesis< in deren Grundbedeutung nach Aristoteles und, im Vergleich dazu, an Wahrnehmung im Alltagsgebrauch, in der der persönliche Geschmack als undifferenzierter, unreflektierter Maßstab genommen wird.

Jürgen Wertheimer: Was die Reflexion angeht, haben wir, glaube ich, kaum mehr Defizite. Wir redigieren auf hohem Niveau. Wir haben ein unglaubliches intellektuelles und vor allem technologisches Niveau erreicht.

Es ist nur nicht intellektuell in der Lebenspraxis verankert.

[...]

Jürgen Wertheimer: Ohne Zweckpessimismus: Viele Kollegen aus der Wissenschaft, die noch vor ein paar Jahren recht engagiert waren, haben sich zurückgezogen, weil sie der Überzeugung sind, dass im Grunde doch alles seinen Gang laufen wird und man wenig dagegen tun kann. Das Passiv-Werden ist ein bedrohlicher Zustand. Ein Beispiel: Es gab in diesem Sommer eine Haushaltsdiskussion, da die Universität 90 Stellen einsparen muss. Diese nimmt man tendentiell von den Geisteswissenschaften weg und führt sie den sogenannten Lebenswissenschaften, das heißt Biogenetik usw., zu. Das hat an sich – ich will mich jetzt gar nicht zum Dogmatiker versteigen – eine gewisse Berechtigung. Nur, eine einfache Umschichtung wäre wirklich das Törichtste, was man tun könnte. Man wählt damit seine Stärken, die Geisteswissenschaften, auch hinsichtlich des Marketings für das Produkt Universität Tübingen, ab, und investiert in etwas, das auch wichtig ist, aber gesondert finanzieren werden sollte. Darüber hinaus wäre der eigentlich interessante Punkt, eine lebhafte Diskussion zwischen Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften in Gang zu bringen – dafür wären wir der geeignete Ort. Darüber gab es hier eine kurze Diskussion, ohne Effekt. Eine verpasste Gelegenheit.

Sie sprachen vorhin bereits von der Kanonisierung in den Wissenschaften, die genau diese Interdisziplinarität als Gegentendenz dringend erfordern würde. Eigentlich müsste man den Diskurs, im besten Sinne einer Platonischen Akademie, spezifisch fördern ...

Jürgen Wertheimer: Eine kritisch denkende Akademie, in der sich auch Individuen ausbilden können, und nicht nur Kunden bedient werden. Im Grunde bildet sich jetzt eine Polarisierung heraus: Ein, ich sage das jetzt polemisch, >Satt-und-Sauber-Zweig<, möglichst billig und schnell für die Masse, drei Jahre, kurzes Studium, keine Studienabbrecher usw.; und ein >exzellenter Zweig< – der Begriff Exzellenz taucht immer wieder auf – für die wenigen sehr guten Studenten. Das ist für die Zukunft wohl so angedacht. Es klingt auch im ersten Moment sehr plausibel, beinhaltet aber möglicherweise den Keim sozialer Ungerechtigkeit. Wir haben schon jetzt in unserer Gesellschaft das Phänomen, dass die Studierenden der Geisteswissenschaften fast nur aus bildungsbürgerlichen Häusern kommen. Das ist problematisch, weil man damit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft festschreibt, die genau das Abbild der Gesellschaft ist. Das Ziel der Universität war ursprünglich, ein Reservoir zu sein, aus dem schöpfend man sich genügend Zeit nehmen, etwas entwickeln und lernen konnte. Heute ist das Paradoxe: Wir kürzen 12. und 13. Schuljahr weg, mit 18 Abitur, dann ein blitzschnelles Studium drangehängt, in drei Jahren abschließen und mit 22, 23 dem Markt zur Verfügung stehen – und dann? Dann wird man anschließend relativ schnell verschlissen. Wenn alles gut läuft, ist man mit 35 bereits fast am Ende. Doch dann muß ja noch irgendetwas kommen, außer dem vorgezogenen Ruhestand. Zugleich legen die Manager auf höchstem Niveau Wert auf Zeit, mit dem Argument, man müsste wieder zum Nachdenken kommen, mal eine Woche im Kloster, mal einen Monat sonstwo. Vielleicht könnte man sich vorher auch schon ein bisschen Zeit nehmen und die ganze Sache fundiert angehen. Die Sabbatical-Idee basiert eigentlich auf der Suche nach Werten, nach Sinn, die in der hochökonomisierten Vorgehensweise letztendlich fehlen, als erstes gestrichen werden. Es sind Soft-Facts, die sich zunächst schlecht quantifizieren lassen. Zugleich wird die Sinnsuche bspw. auf Esoterik-Industrien orientiert. Man hat wieder eine komplette Industrie erzeugt, in der man dann, über Symbolismen und Mythen gesteuert, auf Sinnsuche geht. Nein, man sollte die ersten Jahre der Ausbildung nicht mit dieser Korsett- und Kanon-Optik beginnen.

[...]

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