Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl im Gespräch mit Ruediger John
Frankfurt/M., 5. August 2002

»Der Kunstbegriff ist eine eurozentrische Konstruktion«

Das Frobenius-Institut, aus dem 1898 von Leo Frobenius gegründeten >Afrika-Archiv< hervorgegangen und 1946 der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt angegliedert, wird seit 1996 durch den Ethnologen Karl-Heinz Kohl geleitet. Entgegen der sonst immer noch gängigen Praxis der Kollegen in seinem Metier, interessiert ihn auch der Blick auf die westliche Gesellschaft, deren Kriterien- und Wertesysteme, insbesondere in der vergleichenden Betrachtung mit außereuropäischen Kulturen. In deren Folge hat er die ethnographische Sammlung um zeitgenössische Alltags- und Kultgegenstände erweitert, die exemplarisch adaptive und assimilative Tendenzen zeigen, dabei aber zugleich auch Fragestellungen an europäische Paradigmen sind. In der Ausstellung >New Heimat< im Frankfurter Kunstverein bspw. waren diese exotischen und doch der westlichen Gesellschaft verbundenen Gegenstände Objekten aktueller westlicher Kunstproduktion gegenübergestellt.

Herr Prof. Kohl, wie sind, aus der ethnologischen Sicht, in der ethnologischen Forschung, die Begriffe >Kunst< und >Künstler< untersucht, definiert oder innergesellschaftlich assoziiert – evtl. im Vergleich zum Handwerk?

[...]

Karl-Heinz Kohl: Sie beginnen ja gleich mit der schwierigsten Frage.

Man könnte beispielsweise von der Funktion der Kunst in ihrer Kultur, ihrer Gesellschaft ausgehen.

Karl-Heinz Kohl: Es ist relativ neu, religiöse Artefakte von Lokalkulturen – früher hat man von den >primitiven Kulturen< gesprochen – als Kunst zu identifizieren. Das hat erst um die Wende zum 20. Jahrhundert angefangen, als erste Werke mit Titeln wie >L’art nègre<, >Negro Art< oder >Kunst der Naturvölker< erschienen. Das war auch die Zeit, in der Künstler wie Modigliani oder Picasso in die Museen gingen und die nicht-europäische Aesthetik als eine Art Gegen-Aesthetik entdeckten, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die traditionellen Mittel westlicher Aesthetik bereits weitgehend erschöpft hatten.

Also ergab sich aus der erweiterten Wahrnehmung eine Erneuerungsmöglichkeit?

Karl-Heinz Kohl: Ganz offensichtlich, ja. Wie es dazu kam, läßt sich beispielhaft an der Entstehungsgeschichte von Picassos >Demoiselles d'Avignon< verfolgen, ein Werk, das heute als eine Ikone der Moderne gilt und aus seiner intensiven Beschäftigung mit der Kunst der sogenannten Primitiven hervorgegangen ist. Picasso verdankte die Begegnung mit außereuropäischen Kunstformen dem Zufall. Er musste im Louvre bei seinem Gang zu den Klassikern immer eine kleine Abteilung mit archaischer und asiatischer Kunst durchqueren, die ihn zunehmend mehr faszinierte und auch sein Interesse an afrikanischer Kunst weckte. Die Beschäftigung mit den unterschiedlichsten >primitivistischen< Stilrichtungen half ihm dabei, den traditionellen Formenkanon zu überwinden. Auch der Expressionismus und die surrealistische Bewegung haben sich bekanntlich von außereuropäischen Kunstformen inspirieren lassen. Diese fruchtbare Auseinandersetzung ist dann Ende der dreißiger Jahren mehr oder weniger abrupt abgebrochen. Erst in den sechziger und siebziger Jahren begann sich in der Ethnologie und auch in der allgemeinen Kunstgeschichte wieder ein stärkeres Interesse an außereuropäischer Kunst abzuzeichnen. In New York wurde Ende der fünfziger Jahre das >Museum of Primitive Art< eröffnet. Westliche und nicht-westliche Kunst blieben also trotz allem noch voneinander getrennt. Ein entscheidender Einschnitt war Anfang der achtziger Jahre die Ausstellung >Primitivism in 20th Century Art< von William Rubin im New Yorker MOMA, die das erste Mal eine breitere Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht hat, wie sehr die avantgardistische Kunst des frühen 20. Jahrhunderts der sogenannten >primitiven Kunst< verpflichtet war. Es war zum Teil überraschend, was man da zusammengestellt hat, beispielsweise Werke von Emil Nolde oder Max Pechstein, die oft nichts anderes getan hatten, als Masken aus dem Berliner Völkerkundemuseum abzuzeichnen und in ihre Aquarelle zu integrieren.

1984 ist dann im >Metropolitan Museum of Art< der Rockefeller-Flügel eingerichtet worden, eine einmalige Sammlung der Kunst außereuropäischer Kulturen. Sie ist dem Andenken an Michael Rockefeller gewidmet, der in den sechziger Jahren als Mitglied eines ethnographischen Forscherteams in Neu-Guinea unter bis heute noch nicht ganz geklärten Umständen umgekommen ist. Die New Yorker Millionärsfamilie wollte mit dieser Stiftung also zunächst nur eines ihrer Mitglieder ehren. Faktisch aber wurde damit die Kunst Afrikas und anderer Weltregionen mit der großen westlichen Kunst auf eine Stufe gehoben, nicht ganz vielleicht, denn noch ist sie, im Gegensatz zu den übrigen Sammlungen des größten amerikanischen Kunstmuseums, nicht chronologisch nach Stilrichtungen, sondern nach ethnologischen Provenienzen geordnet.

Inzwischen kommt man zunehmend ab von den ethnologischen Präsentationsformen. Die künstlerischen Hervorbringungen afrikanischer, ozeanischer und südamerikanischer Lokalkulturen verlassen das Ghetto der Völkerkundemuseen, die sich ihrerseits an neuen Konzepten versuchen. Objekte aus außereuropäischen Kulturen werden wie klassische westliche Kunst präsentiert. Hier in Deutschland war es vor allem Werner Schmalenbach, der mit seiner Ausstellung über afrikanische Plastiken in Köln Pionierarbeit geleistet hat. Wichtig ist sicher auch, daß sich zeitgenössische Künstler wie Arman oder Baselitz Sammlungen >primitiver Kunst< zulegen.

Inwieweit ist ein Kunstbegriff in Differenzierung zum Handwerk in der ethnologischen Forschung bedeutsam, auch gesellschaftlich bedeutsam? Wie zieht man in den Untersuchungen über außereuropäische Kulturen Rückschlüsse von den Kunstwerken auf die jeweilige Gesellschaftsform?

Karl-Heinz Kohl: Es hängt immer davon ab, wie man Kunst definiert. Soweit ich sehe gibt es im Großen und Ganzen drei Formen der Kunstdefinition, die ästhetische, die institutionelle und die symbolische. Zur ästhetischen braucht man nicht mehr viel zu sagen, die scheint durch die Entwicklungen der letzten dreißig, vierzig Jahre im wesentlichen überwunden. Die institutionelle Kunst ist das, was die Schicht der Connaisseurs als Kunst definiert. Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei natürlich der Markt, d.h. was auf den Kunstmarkt kommt und was auf dem Kunstmarkt verkauft werden kann. Der dritten Definition zufolge zeichnen sich Kunstwerke durch bestimmte Eigenschaften aus, die sie dazu prädestinieren, Bedeutungen zu transportieren. Wenn man den symbolischen Kunstbegriff heranzieht, dann ist es natürlich auch relativ einfach, den Bereich von Kunst in nicht-westlichen Gesellschaften zu identifizieren. Unter diese Kategorie würden dann vor allem rituelle, sakrale Objekte fallen, die Mediatorenfunktionen haben zwischen den Lebenden und den Ahnen, zwischen den Menschen und den Göttern, Objekte also, an die Bedeutungen gebunden sind, Objekte, die etwas anderes als sich selbst repräsentieren, die auf Transzendentes verweisen.

[...]

Religion und der >primitiven Kulturen< sehr ähnlich sind, wenn man sich die ersten christlichen Bildzeugnisse vor Augen führt. Diese hatten auch im Wesentlichen eine Vermittlungsfunktion, nämlich was den Glauben, was die Ideale, was die Überzeugungen angeht. In beiden Fällen ist letztendlich das Kollektiv als Kunstwerk ganz präsent. Erst als sich der Kunstbegriff von der Vermittlungsfunktion emanzipiert hat, entsteht plötzlich diese Individualisierung und diese Objekt- und Personenbezogenheit. Es entsteht eine neue gesellschaftliche Disziplin, die sich Kunst nennt, die nicht mehr einer spezifischen Vermittlungsfunktion zugeordnet ist, sondern die sich flexibilisiert hat, sei es, dass sie am Produzenten, am Auftraggeber oder an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientiert ist.

Karl-Heinz Kohl: Wobei in vielen Fällen der Auftraggeber viel wichtiger war als der Künstler selbst. Wir kennen zahlreiche mittelalterliche Altarbilder, auf denen der Auftraggeber verewigt ist. Der Namen des Künstlers aber ist nicht überliefert. Man weiß nur, dieser oder jener Fürst hat das Bild gestiftet.

Man könnte sagen, dass es keine klare oder keine einheitliche gesellschaftliche Aufgabe mehr für die bildende Kunst gibt. Sie dient in der Ausstellung repräsentativen Zwecken, letztendlich der Vermittlung und Darstellung bestimmter Themen, auch von Macht. Aber es gibt eine selbstgewählte Aufgabe der bildenden Kunst, wie auch in ähnlicher Form in der Wissenschaft: Bildende Künstler verstehen sich als Personen, die eine subjektiv wichtige Aussage verbreiten, Bedeutung erzeugen wollen, ganz gleich, ob sie dies real dann auch tun oder ob es Teil eines Images ist.

Karl-Heinz Kohl: Ich finde, das ist eine sehr wichtige und bedeutende Tendenz etwa der letzten 30 Jahre: Der Weg weg vom repräsentativen Kunstwerk, das Symbol von Prestige, Macht oder Reichtum ist, und hin zu dem, was Kunst dem Ursprung nach eigentlich war, nämlich eine Form der Darstellung, die bestimmte Botschaften übermitteln wollte. Wenn ich die zeitgenössische Kunst richtig verstehe, ist es heute das Bestreben der Künstler, neue Zusammenhänge aufzuzeigen, Assoziationen zu wecken und Bedeutungen zu evozieren, die durch das geschriebene Wort alleine nicht produziert werden können. Ich finde es absolut wichtig, dass die Kunst sich wieder in diese Richtung entwickelt hat und weggekommen ist vom Repräsentativen. Man könnte natürlich auch sagen – und es ist auch schon häufig genug gesagt worden –, dass das Kunstmuseum, das seit dem frühen 19. Jahrhundert nach dem Vorbild antiker Tempel gebaut worden ist, auch deren Erbe angetreten hat. Das Kunstmuseum ist in gewisser Weise ein Ersatz für klassische sakrale Kultstätten und es wird, mehr oder weniger unbewusst, auch so rezipiert. Wenn man früher am Sonntag in die Kirche ging, so geht man heute eben am Sonntag in das Kunstmuseum. Klaus Heinrich, der Berliner Religionsphilosoph, hat die Museen einmal als >Gattungshöhlen< bezeichnet, in denen die Geschichte der Gattung gegenwärtig wird, in denen sie sich materiell verkörpert in Form ihrer großen ästhetischen Hervorbringungen und Idole, die dort für immer aufbewahrt werden.

Nur ist die Frage, wer das Objekt dieser Andacht im Museum ist.

Karl-Heinz Kohl: Ich würde die These wagen, daß die Museen heute zu den Orten geworden sind, in denen sich, in Abwandlung eines berühmten Satzes von Durkheim, die Gesellschaft selbst anbetet. Émile Durkheim hat dies in seinem letzten großen Werk ja von der Religion behauptet. Seine Ausgangsfrage war, was die australischen Ureinwohner in ihren Totems eigentlich anbeten. Und er kam zu dem Schluß, daß dies nicht nur in den australischen Kulten, sondern auch noch in den fortgeschrittenen Religionen die Gesellschaft selbst sei, das große übergeordnete Kollektiv, das uns in unserem ganzen Sein bestimmt, das Kategorien, Wertesysteme und Bedeutungen überhaupt erst entstehen läßt. Einen Teil dieser Funktion von Religion hat im Zuge der Säkularisierung das Museum übernommen. Die dort ausgestellten Objekte vermitteln ja in gewisser Weise immer auch einen Zugang zum Transzendenten, wenn man hierunter im Sinn von Krzystof Pomian alles Nichtgegenwärtige versteht. Sie haben Verweischarakter.

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