Mathis Neidhart im Gespräch mit Klaus Heid
Stuttgart, 4. April 2002

»Als Künstler kann man in anderen Systemen freier operieren«

Das >Bistro 21< im Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist ein Ort, der Weitblick bietet, so weit das im Stuttgarter Talkessel möglich ist. Dort traf ich Mathis Neidhart (39). Ziemlich gehetzt kam er von seinem Auftraggeber DaimlerChrysler, mit Pilotenkoffer in der Hand und einer Rolle Flipchart-Bögen unter dem Arm. Während des Gesprächs entrollte er sie auf dem Nebentisch, um sein neues Konzept IMEX (K) an Hand der Zeichnungen zu erläutern. Über zwei Stunden sprachen wir über sein neues Arbeitsfeld als >künstlerischer Prozessbegleiter<, nahmen noch eine Latte macchiato in der Bahnhofshalle, bevor er zum Zug nach Nürnberg eilte und nach Hause fuhr.

Wer die Homepage von Mathis Neidhart aufruft, wähnt sich zunächst falsch verlinkt – nämlich nicht mit der Seite eines Künstlers, sondern des Beratungsunternehmens IMEX, »Der Spezialist für Poesierevitalisierung«. Neidhart, im Habitus des alerten Businessman, lächelt den Besucher mit einem Funktelefon am Ohr an und textet in bestem Beraterdeutsch: »Unser Erfolgsrezept: Poesiestrategien entwickeln, Poesie erschließen, erstellen und absichern! Unbeeindruckt von Rezession setzt IMEX weiter auf Expansionskurs: Machen Sie also die Chance zum Gewinn! Investieren Sie mit uns in die Zukunft! Denn wir investieren in Poesie!«

Der Künstler als Unternehmer: Mathis Neidhart spielt mit dieser Rolle seit fast 15 Jahren. Er realisierte eine Imagekampagne für Steiner Schlossquelle (»Und es gilt: Nur das Wertvolle erhält das gräfliche Siegel!«); entbot dem Schlachthof in Schweinfurt vor dessen Abriss mit den Motivwurstsorten Alpha und Omega einen >Letzten Gruß<; installierte >IMEX sounds< in einer Kunsthalle, Kaufhausmusik für eine >positive Grundstimmung<; belieh mittels >IMEX Invest< die teuerste Arbeit der Staatsgalerie Stuttgart (Willem de Kooning, untitled XX, 1982, Öl auf Leinwand, 177,8 cm x 203,2 cm, Verkaufspreis 1997: 1 070 000 DM zzgl. MwSt.) und finanzierte aus dem Zinsertrag eine ROLEX-Uhr, »die als Skulptur zur Vernissage getragen wurde«.

IMEX lief bestens. Bis vor zwei Jahren sah die Planung »auch künftig ein durchschnittliches Wachstum von 13,5% vor«. Dann kam die Rezession – und seitdem glaubt keiner mehr an solche Versprechungen. Das war aber nicht der Grund, weshalb Mathis Neidhart nun als künstlerischer Prozessbegleiter bei DaimlerChrysler tätig ist. Zum einen war er der Simulationen im Kunstbetrieb überdrüssig und wollte seine künstlerische Kompetenz im >echten< Wirtschaftsleben einsetzen. Zum anderen wurde Renate Wiehager Anfang 2001 Leiterin der Sammlung DaimlerChrysler. Die ehemalige Leiterin der Villa Merkel in Esslingen beauftragte Neidhart mit der Begleitung von Umstrukturierungsprozessen innerhalb der Sammlung und vermittelte ihn als >Pilotfisch< ins Unternehmen.

Mathis Neidhart, du bezeichnest dich als >künstlerischen Prozessbegleiter<. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Mathis Neidhart: Die Qualität eines Arbeits-Ergebnisses hängt entscheidend davon ab, wie der Arbeits-Prozess begonnen und wie er gestaltet wird. Wenn ein Künstler an unternehmerischen Prozessen beteiligt ist, wird im Unternehmen eine andersartige Qualität implementiert: künstlerisches Denken.

Um welche Art von Prozessen handelt es sich dabei?

Mathis Neidhart: Es handelt sich zum Beispiel um Findungsprozesse, ein Problem muss gelöst werden. Zwanzig Ingenieure sitzen zusammen und überlegen, wie eine neue Zylinderkopfdichtung aussehen soll. Das einundzwanzigste Teammitglied ist der Künstler. Er nimmt die Fragestellungen und den Prozessverlauf auf. Damit ist von vornherein eine andere Qualität in den Arbeitsprozess eingebunden.

Sitzt du als stiller Beobachter am Tisch oder sprichst du in der Diskussion mit? Du kennst dich ja mit Zylinderkopfdichtungen nicht aus, unterstelle ich mal.

Mathis Neidhart: Richtig, deshalb lerne ich bei diesen Prozessen enorm viel dazu. Zunächst steht man als Künstler außerhalb des bestehenden Systems, ist dadurch aber auch nicht in die üblichen Lösungswege eingebunden. So besteht die Chance – bei entsprechender gegenseitiger Bereitschaft – andere Dinge einzubringen, weil ein anderer Denkansatz gewählt wurde. Ein anderes Beispiel: Ich kann über die technische Seite von Datenbanken keine Aussage machen, aber über die Form der Darstellung. Nicht jede Darstellungsform muss ein Datendiagramm von >Excel< sein. In diesem Fall habe ich davon erzählt, dass gotische Kathedralen Übersetzungen von Zahlenmystik sind und damit eine mögliche Art darstellen, wie man Zahlen Form geben kann. Damit ist die Diskussion auf einer anderen Qualitätsebene. Plötzlich spricht keiner mehr nur von Tortengrafik. Die Diskussion bekommt eine andere Qualität, wenn die üblichen Klischees nicht stillschweigend akzeptiert werden. Das war einer der Ausgangspunkte, dann auch als Künstler die Potentiale in diesen Vorgängen zu sehen und systematisch zu thematisieren.

Zurück zur deiner Tätigkeit bei DaimlerChrysler: Wie läuft die künstlerische Prozessbegleitung konkret ab?

Mathis Neidhart: Eine aus dem Moderationsbereich bekannte Methode ist, zu den Aussagen der Teammitglieder Zeichnungen zu machen. So entstehen an einem Nachmittag vielleicht 100 Zeichnungen im Postkartenformat. Die hängen dann wie Leporellos an der Wand. Durch das bildgestützte Arbeiten hat das Team die Möglichkeit, den Prozess anders zu reflektieren, als wenn ein Protokoll in Form einer Wortliste angefertigt würde. Mit den Bildern werden Zusammenhänge klarer, denn der Vorgang wird sozusagen simultan gespiegelt. Ideal ist es, wenn ein Teammitglied eine Idee äußert und dabei auf die entsprechende Karte deuten kann, die an der Wand hängt – die Idee ist sofort im Gesamtzusammenhang verortet. Die Methode ist enorm hilfreich, sie sensibilisiert, um Ergebnisse anderer Qualität zu erzielen, um auch fachfremdes, künstlerisches Denken in den eigentlichen Lösungsweg einzubeziehen. Der Künstler ist damit vollwertiges Mitglied eines Projektes und übernimmt auch wirklich Verantwortung. Denn es muss, wie in solchen Projekten üblich, Rechenschaft abgelegt werden, die Meilensteine müssen erfüllt werden. Der Künstler ist ganz normaler Leistungsträger.

In welcher Form lieferst du deinen Erfolgsbericht ab?

Mathis Neidhart: Der Projektleiter nutzt z.B. die Zeichnungen, um den Projektverlauf darzustellen. Die Zeichnungen sind dann Teil der Ergebnisdarstellung des Teams.

Du hast bereits angesprochen, dass das Zeichnen aus dem Bereich der Unternehmensberatung, den dort praktizierten Moderationsprozessen, bekannt ist. Worin besteht der Unterschied zu deiner Tätigkeit?

Mathis Neidhart: Das Zeichnen ist eine der Arbeitsmöglichkeiten – der Künstler zeichnet ja von Hause aus. Das mir wichtige ist jedoch, dass ein Künstler kunstferne Vorgänge begleitet; nicht als Moderator, sondern im Beisteuern von Ideen und Lösungsansätzen aus der eigenen künstlerisch-ästhetischen Praxis. Ich glaube, ein wesentliches Merkmal eines Moderators ist, dass er im Prinzip neutral ist, keine eigene Position hat, sondern vorhandene Positionen integrieren und vermitteln kann. Ich habe dagegen – grob gesagt – selbst eine Position, eine eigene Perspektive auf die Thematik. Bei vielen komplexen Fragestellungen werden z.B. kulturelle oder bildbezogene Themenbereiche gestreift, für die man als Künstler meines Erachtens durchaus Kompetenzen einbringen kann. Mein Interesse ist dann, als Künstler an der Qualifizierung dieser Bilder mitzuarbeiten.

Akzeptieren Ingenieure so ohne weiteres einen Künstler im Team?

Mathis Neidhart: Ja, wenn jeder jeden mit seiner Qualifikation und Kompetenz ernst nimmt.

Du hast deiner Arbeit den Titel IMEX (K) gegeben, K steht für Kunst. Könntest du die Grundzüge deines Ansatzes erläutern?

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