»Es gibt mehr Bereitschaft, etwas Verrücktes zu tun«
Wenn Michael Brater (58) in Karlsruhe ist, um die Firma dm-drogeriemarkt zu beraten, wohnt er im Allee-Hotel, unweit der Firmenzentrale. Wir treffen uns im Restaurant, eigentlich ein Ort, an dem man sich ruhig unterhalten kann. Am Abend unseres Gesprächs tafelt dort jedoch eine große Gesellschaft. Wir finden gerade noch einen Tisch zwischen dem Eingang und der Treppe, die in den Keller führt.
Kellnerinnen hasten mit Tabletts hinauf und hinunter und sorgen für Nachschub. In der Eile fliegt eine Bedienung über die oberste Stufe und lässt eine Metallwanne auf den Boden krachen. Den Notarzt brauchen wir nicht. Auch nicht für den sympathischen, manischen jungen Mann, der an unseren Tisch tritt und ungefragt von seinen unternehmerischen Erfolgen als Computerfachmann erzählt. Er sieht ausgezehrt aus und macht den Eindruck, als sei er eher mit harten Drogen im Geschäft als mit Hightech. Michael Brater ist auch dadurch nicht aus der Ruhe zu bringen.
Michael Brater, Autor des Buches >Künstlerisch handeln<, ist Mitglied von GAB, der >Gesellschaft für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung< in München. GAB ist in der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der Organisationsentwicklung tätig. Die Projekte bestehen zu 70% aus öffentlich finanzierten Modellversuchen mit betrieblichen Partnern. Aus den Forschungsergebnissen werden praktische Anwendungen für die allgemeine Beratungstätigkeit in Unternehmen entwickelt. Der wichtigste Partner ist das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIB).
dm ist für seine innovative Unternehmenskultur bekannt. Mit der Karlsruher Drogeriemarktkette hat GAB das Projekt LIDA (Lernen In Der Arbeit) entwickelt, ein Konzept für die Drogistenausbildung. Der Leitgedanke ist die Entwicklung der Mitarbeiter zu selbständigen und eigenverantwortlichen Menschen. Sie sollen nicht in externen Workshops, sondern direkt am Arbeitsplatz soziale Kompetenz, den Umgang mit Kunden und die Bewältigung von Stresssituationen erlernen.
Michael Brater ist Soziologe. An der Universität München hat er gemeinsam mit Ulrich Beck an der >Subjektorientierten Berufstheorie< gearbeitet. 1980 war er unter den Mitbegründern der GAB. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Methoden der Berufsbildung, Lernen in und vom Leben (zu dem auch die Arbeit gehört), der Zusammenhang von Arbeit und Kunst, sowie der Strukturwandel von Arbeit und Managementformen.
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Welche Bedeutung hat das prozesshafte Gestalten denn für das tägliche Leben?
Michael Brater: Prozesshaftes Gestalten ist heute aus vielen Gründen sehr wichtig. Die menschlichen Gestaltungsfähigkeiten sind grundsätzlich angesprochen bei der Frage, ob ich in der Lage bin, mich meinem Leben auszusetzen und das aufzugreifen, was in meinem Leben eine Rolle spielt oder ob ich mich selbst ständig in irgendeiner Weise konditionieren, mich selbst >abgerichtet< verhalten muss. Es gibt Menschen, die wissen haargenau: Mit 25 Jahren mache ich das, mit 30 jenes, und so weiter. Das geht natürlich völlig am Leben vorbei, denn mit den Dingen, die mir mein Leben zu bieten hat, die mir mein Leben darbietet, kann ich so nichts anfangen. Ich nehme sie nicht wahr, weil ich ständig von meinem Ziel abgelenkt werde. Das ist wirklich eine Frage der grundlegenden Lebenseinstellung. Flexibel zu handeln ist nicht selbstverständlich, das muss man auch üben können. Unter dem Gesichtspunkt ist das künstlerische Handeln eine ganz große Chance.
Ist das möglicherweise der Grund, warum das Künstlerische wieder Konjunktur hat? Die neue Vorstellung vom Leben oder von der Biographie steht ja unter den Schlagworten >Flexibilität< und >Mobilität<. Die Vorstellung, dass jemand mit 25 Jahren einen Beruf anfängt und diesen bis zur Rente ausübt, ist inzwischen überholt. Bleibt flexibel bleibt mobil, lautet das Motto. Ist hier die Verbindung zum künstlerischen Handeln?
Michael Brater: Ja, hierin liegt seine Aktualität. Es gibt unglaubliche Strukturparallelen zwischen dem, was wir als künstlerischen Prozess, als Paradigma des offenen Handlungsprozesses zu beschreiben versucht haben, und dem, was wir an allen möglichen Stellen heute in der Wirtschaft, im Alltag, im Zeitgeschehen feststellen können. In der Arbeitswelt ist das mit Händen zu greifen. Ein klassischer Beruf besteht aus einem Satz von Regeln, die vorgeben, wie man etwas richtig macht, wie man beispielsweise ein Brett richtig sägt, wie man es richtig hobelt. Diese Aufgaben hat heute die Maschine übernommen. Die menschliche Arbeit ist nicht mehr durch die Anwendung von Regeln bestimmt. Sie besteht vielmehr darin, dass man der Maschine sagen muss, was sie machen soll, ansonsten daneben steht und in dem Moment eingreifen muss, wenn eine Störung auftritt.
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