Funktionen und Freiheiten der bildenden Kunst
Ruediger John

Bildende Kunst – Kultur und Gesellschaft

Die sogenannte Freiheit der Kunst ist in erster Linie deren Loslösung von traditionellen funktionalen Aufgaben in ihrer Entwicklung zu einem autarken gesellschaftlichen Subsystem und damit Disziplin.

Seit der Antike war es die gesellschaftliche Funktion der bildenden Kunst als Handwerk, Ikonographien für Kirche und Staat zu erstellen, also Bebilderungen sowohl der Insignien von Macht als auch der Erzählungen und Argumente (Geschichten und Mythen) der Erhaltung dieser zu liefern1. Die bildende Kunst (jedoch als solche noch nicht definiert) stellte in einer weitgehend analphabetisch geprägten Kultur somit ein prämodernes Massenmedium dar.

In der Moderne löste sich die enge Bindung der bildenden Künstler an die traditionellen Auftraggeber Kirche und Staat, auch wenn letzterer bspw. in Frankreich durch die Salonausstellungen und die Académie des Beaux-Arts nach wie vor erheblichen Einfluss ausübte. Mit der Manifestation der bürgerlichen Mittelschicht im 19. Jh. setzte sich eine neue Zielgruppe durch, die die Künste als Mittel zur Repräsentation von den (vormals) Herrschenden adaptierte. Da sich dieser Teil der Bevölkerung jedoch bspw. nicht mehr primär über christliche Themen definierte, entstand ein Interesse an Abbildungen zeitaktueller Begebenheiten, die nicht zuletzt auch durch neue Arbeitsweisen und Stilmittel3 akademisch komponierte Bildkonstruktionen ablösten und z.T. eine subjektiv initiierte Reportage des aktuellen Geschehens und der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellten. Erstmals entstanden Kunstwerke frei von direkten Aufträgen4, ein Markt dieser handelbaren Objekte entstand und damit die Grundlage, die bildende Kunst als eigenständigen Berufszweig aufzufassen. Nicht zuletzt durch die Fotographie von der gesellschaftlichen Funktion der Hofberichterstattung und der des Massenmediums befreit, konnte sich die bildende Kunst ornamentalen Aufgaben5 widmen und, gleich einer modernen Heraldik, den Käufern als sozialer Marker dienen. Das Kunstwerk fungiert so als Insignie der gesellschaftlichen Stellung, wie auch der beispielhaften Visualisierung des kulturellen Anspruchs der besitzenden Person.

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Glossar n
Ruediger John

Assoziation f, assoziieren, kontextuelle Inbeziehungsetzung zur Bedeutungszuschreibung und Bewertung.

Assoziationsarbeit f, Tätigkeit der kriterienbezogenen, erkenntnisverfolgenden Vernetzung/Relativierung/Wertung von Ergebnisentitäten (vgl Kontextualisierung).

Aesthetik f, (vgl aisthesis gr, Wahrnehmung; aisthetikos gr, wahrnehmend) vereinfachend: im wissenschaftlichen, philosophischen Kontext die erkenntnistheoretische, subjektive Untersuchung (deskriptiv, wie auch normativ) der Konstruktion und Struktur des Objektes, dessen Relation zur Wirklichkeit sowie Bedingungen und Formen der Rezeption (auch im Sinne von kontemplativem Schauen/Anschauung/Anmutung); nach A.G. Baumgarten und I. Kant (formale Aesthetik) auch sinnl. Erkennen, Erscheinung und Bedeutungszuschreibung.

Aesthetik und Erkenntnisarbeit in praktischem Handeln, im Kontext der bildenden Kunst Bezeichnung der Vorzüge künstlerischer Tätigkeit, die theoretische Überlegungen und praktisches Erproben vereint, um in actus subjektive Erkenntnisse und Bedeutung zu erarbeiten (abduktive Methode) (diff induktive, deduktive Methode) (vgl Transferkunst).

Bedeutung erzeugen, hier: bewußte bzw. zielgerichtete künstlerische Tätigkeit (diff allg. Kreativer).

Differenzierung f, kritische Unterscheidung und Abgrenzung (vgl Definition) zur Klärung von Sachverhalten (> Kritik).

Diskurs m, diskursiv, bezeichnet den im Kontext künstlerischen Handelns mittels geeigneter Methoden (eg Rhetorik) geführten Dialog hinsichtlich Kritik und Ergebnis- bzw. Erkenntnisgewinn; Teil des künstlerischen Findungsprozesses und damit der künstlerischen Arbeit.

Elite f, hier: im Sinne von Funktions~ und Qualifikations~, d.h. führend durch professionalisierte Beschäftigung und Auseinandersetzung in spez. Fachbereichen in spez. ges. Subsystemen.

Eliten und Kommunikation, schlagwortartige Benennung des relevanten Entitätenpaares als Beschreibung des Phänomens der mit der Elitenbildung einhergehenden Kommunikationsarmut und mangelnden Dialogfähigkeit sowie fehlender transdisziplinärer Diskurse.

Entkopplung ges. Subsysteme, Beschreibung des Phänomens der mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaftsbereiche einhergehenden Interaktionsunfähigkeit.

explorativ, bezeichnet im Kontext künstlerischen Handelns Arbeitsweisen, die sich, unter Anwendung von Trial-and-Error-Methoden, in anderen ges. Subsystemen bewegen.

Funktion – Funktionalisierung, Differenzierung zwischen der systemrelevanten (eg gesellschaftlichen) Eignung sowie damit Bedeutung und der autoritären Aneignung bzw. Verwendung subsystemisch wertedefinierter Handlungen und Kriterien (eg Kunst).

infiltrativ, bezeichnet im Kontext künstlerischen Handelns Arbeitsweisen, die sich simulativ Eigenschaften ges. Subsysteme bedienen, um, zunächst abseits der gesellschaftlich geübten Kriterien der Kunstbetrachtung/-erfahrung (> Aesthetik) agierend, die Wahrnehmung sensibilisierende Phänomene zu evozieren.

Intervention f, interventionistisch, bezeichnet im Kontext künstlerischen Handelns Arbeitsweisen, die sich bewußt der Kriterien, Haltungen, Rituale und Wechselwirkungen ges. Subsysteme bedienen, um, zunächst abseits von den gesellschaftlich geübten Kriterien der Kunstbetrachtung/-erfahrung (> Aesthetik) agierend, die Wahrnehmung sensibilisierende Phänomene zu evozieren, die auf das funktionalisierte ges. Subsystem wirken; szenische ~ geplante, u.U. choreografierte Einflußnahme auf ges. Subsysteme.

irgendwie, sozusagen, pop. Arabesken in der Beschreibung von Kunst und in allg. Diskursen mangels fundierten Grundlagenwissens, Reflexions- oder Kritikfähigkeit (nicht zu verwechseln mit der Fähigkeit zur Relativierung).

Know-how-Transfer m, hier: Anwendung der Qualifikationen ästhetisch professionalisiert Handelnder (vgl Künstler) in der Einbeziehung dieser in Prozesse anderer Gesellschaftsbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, zur Verbesserung der multiperspektiven Betrachtung und Begleitung von Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen.

Kunst als Kontextualisierung von Aesthetik, künstlerisches Statement als kritische Inbeziehungsetzung/Assoziation/Relativierung der > Primärerfahrung mit an Themen und Inhalten der künstlerischen Idee (vgl idea gr) orientierten Kriterien und Phänomenen.

Kunst als Reflexion von Gesellschaft, diff Kunst als Repräsentation von Gesellschaft, Differenzierung der Funktion von Kunst als kulturschaffendes Momentum in Gesellschaften; im Gegensatz zu repräsentativen Zwecken, in denen Kunst(-werke) als Marker der Abgrenzung von (innerges.) Eliten und Kulturen dienen, kann Kunst der ges. relevanten Reflexion, d.h. auch kritischen, diskursiven Betrachtung ges. Phänomene und Befindlichkeiten dienen.

Kunst – Künstler – künstlerisch Handeln, Differenzierung der im pop. Gebrauch verwechselten bzw. uneinheitlichen Definitionen im künstlerisch-kreativen Umfeld, die zwischen dem Ergebnishaften (eg Objekt, Bild, Dokumentation, Aktion etc.) des spezifisch künstlerischen Aktes (= Kunstwerk), dem/den Produzenten und damit subjektiv Einflußnehmenden (= Künstler), sowie allg. kreativer Methoden und Strategien (= künstlerisch Handeln) unterscheidet.

Künstler m, Künstlerin f, historisch dem Handwerk verwandte Tätigkeitsbezeichnung; spätestens seit der Moderne aus dem klassischen Kanon der Kunst gelöste Bezeichung für Personen, die professionalisiert (> Elite) mit Fragestellungen der Aesthetik umgehen; seit dem 18. Jh. im Akademieumfeld oftmals restitutiv definitorisch der handwerklichen Tradition verpflichtet und (nach D. Granosalis) in der Postmoderne gesellschaftsweit popularisiert zur Bezeichnung einer Lebenseinstellung.

künstlerische Forschung f, ~ bezeichnet professionell-künstlerisches Vorgehen, das sich der Verbindung rechercheorientierter Methoden und kritisch subjektiver (künstlerischer) Handlungen bedient, um spezifisch und u.U. zielorientiert singuläre, m.u. kontextfremde Ergebnisentitäten erkenntnisbringend zu assoziieren; spez. Qualitäten diff zu wissenschaftlichem Forschen (eg Theoriebildung, Methoden).

künstlerische Strategien, bewußte und konsequente Applikation der spez. den ästhetisch professionalisiert Handelnden (vgl Künstler) eigenen Methoden (vgl Exploration, Intervention, Infiltration, Suggestofiktion).

Kritik f, (vgl kritike (techne) gr, etym Beurteilung, Unterscheidung) vereinfachend: Basale Form der Auseinandersetzung mit Handlungen, Normen und Zielen u.a. durch Distanzierung, Beurteilung, Infragestellung, Negierung sowie Grundelement der Philosophie und allg. Wissenschaften; mit I. Kant Untersuchung der Grenzen des Erkenntnis- und Urteilsvermögens selbst; auch pop. Kunst~ als häufig reflexionsarme, technikdeskriptive Berichterstattung über Kunst.

kritische Akademie f, Differenzierung zur pop. Bedeutung des Akademiebegriffes im Kontext der Aus- und Weiterbildung, auf Prinzipien wie Rhetorik, Dialog und Diskurs basierendes, in Anlehnung an die platonische Akademie (vgl akademeia gr) des transdiziplinären Austausches sich orientierendes Netzwerk von Agierenden; k. meint in diesem Kontext die, der ursprünglichen Wortbedeutung naheliegende, Unterscheidung in der Betrachtung der Topoi.

Lebenspraxis als prozesshaftes Gestalten, differenzierendes Statement (vgl »Jeder Mensch ist ein Künstler«, J. Beuys) der Annahme, daß der alltagspraktische Umgang mit Lebenswirklichkeiten einen essentiellen, persönlichen, kreativen, fluiden (vgl Fluidum lat) Formbildungsvorgang darstellt.

Luxus Zeit, hier: schlagwortartige Pointierung der Verknappung eines der Kriterien der Aesthetik und Reflexion.

multiperspektivisch, hier: Berücksichtigung unterschiedlicher Kriterien, Wertesysteme usw. in ges. Subsystemen zur Relativierung subjektiver Prägungen.

multisensuell, bewußte Gleichzeitigkeit der Nutzung und Gewichtung subjektiver Eindrücke.

Persönlichkeit ausbilden, individuelle Persönlichkeitsentwicklung durch multifaktorielle Einflüsse sozialer Umgebungen.

Primärerfahrung f, betrachterseitige Wahrnehmung/Interaktion künstlerischer Arbeiten in actus (vgl realiter lat) und subjektiv gebildetes Assoziations- und m.u. Erkenntnisfeld (> Aesthetik).

prozessual, bezeichnet im Kontext künstlerischen Handelns methodisch-strategische Arbeitsweisen, die i.d.R. als Interaktion vor sich gehen und auf einen gegebenen Zustand verändernd einwirken.

Qualität f, 1. wertneutrale Eigenschaft eines Prozesses, Subjektes oder Objektes (vgl qualitas lat), 2. wertungbehaftete Beurteilung ebendieser.

Recherche f, hier: empirisch sammelnde, subjektive Untersuchung als Teil künstlerischer Assoziationsarbeit.

Reflexionsarbeit f, bezeichnet die subjektive Assoziationsarbeit im Prozess der Aesthetik, sowie die Relativierung und Bedeutungszuschreibung in Bezug zur subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung.

semantisches Netz n, Modell, m.u. Visualisierung, assoziierter Entitäten zur Bedeutungszuschreibung; insbesondere durch die Typisierung der Relationen (link eng) werden Kontexte aufgeschlüsselt und erkennbar (vgl spez. Hypertext eng).

Subjektivität als Qualität, schlagwortartiger Verweis und Wertung der Vorzüge der persönlichkeitsgeprägten und multiperspektivischen Wahrnehmung (> multiperspektivisch, > Qualität).

Suggestofiktion f, suggestofiktiv, Fachterminus für div. Formen der Konstruktion von Wirklichkeiten (vgl suggerieren; subgerere lat, von unten herantragen, eingeben, einflüstern; vgl Fiktion; fingere lat, bilden, formen, ersinnen).

Soziostruktur, hier: Reflexion über personelle Situation und soziale Interaktion Beteiligter, sowie Bildung eines ausgewogenen Organigramms und einer impliziten Hierarchie zur motivierenden Integration (diff Ich-AG).

systemische Kunst f, in der Differenzierung des Begriffes Kunst bezeichnet ~ künstlerisches Handeln, das, abgewendet von tradierten symbolischen, unbewußt subjektiven oder durch Mystifizierungen initiierten künstlerischen Formfindungsprozessen, diese jedoch fallweise bewußt (eg infiltrativ) einsetzend, sich der gewerteten (> kritisch) Vernetzung gesellschaftlicher, subsystembedingter Kriterien bedient, um Erkenntnissprozesse bei Rezipienten zu fördern.

transdisziplinär, in der Differenzierung zu dem häufig mißverständlich und oberflächlich benutzten Begriff der Interdisziplinarität (vgl inter lat) betont ~ die Sinnfälligkeit der Disziplinenordnung im Sinne der Professionalisierung (> Elite), jedoch einhergehend mit der paritätisch basierten (vul auf gleicher Augenhöhe) Dialog- und Kooperationsfähigkeit unter diesen (vgl trans lat).

Transfer m, hier: übertragend-interpretierende Handlung (vgl Übersetzung) als Vermittlungsleistung (> Transferkunst).

Transferkunst f, künstlerische Methode der ästhetisch-reflexiven Erzeugung und Vermittlung von Erkenntnissen und Bedeutungen; ~ bezeichnet eine Kunstkategorie, die insbesondere div. Lebensbereiche und Wertesysteme kontextuell in Beziehung setzt; besondere Beachtung findet hierbei auch die erkenntnis- und kommunikationsfördernde und vermittelnde, d.h. assoziierende und relativierende Funktion ästhetischen Handelns.

Value for Time, Value for Money, Value for Sense, basale ges. Wertrelationen in der ROI-Betrachtung (Return on Investment eng); V.f.S. erweitert dabei den klassischen Kanon des Unternehmenscontrolling um einen häufig vernachlässigten Soft-Fact (diff Time is Money).

Vernetzung von Experten, schlagwortartige Forderung zur Entgegenwirkung der kommunikationsbezogenen Entkoppelung als allg. gesellschaftlichem Problemphänomen der Elitenbildung (> transdisziplinär).

visuell-ästhetisch, im Kontext der bildenden Kunst exaktere Bezeichung der durch konventionelle Kunstschaffende hauptsächlich ausgeübten, kanonisierten Ausdrucksform, zugleich der pop. Reduktion von Kunst durch die Rezipienten (diff ästhetisch-reflexiv, > Transferkunst).

Wahrnehmung ist Interpretation, schlagwortartiger Verweis auf die individuelle, subjektive Assoziationsleistung des Rezipienten im ästhetischen Prozess.

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Artist, Artistic Research, Critical Aesthetics, Systemic Art, Systems Art, Interventionistic Art, Intervention Art, Performance Art, artistic Intervention, Kuenstler, Kuenstlerische Forschung, Kritische Aesthetik, Systemische Kunst, Interventionistische Kunst, Performance Kunst Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, kritische Ästhetik, künstlerische Kompetenz, Wirtschaftskultur durch Kunst, public understanding of science, Transferkunst, Transfer Art, third culture, new business ethics, modern economy, Wirtschaft und Ethik, Wissenschaft und Kunst, politics and aesthetics, Politik und Aesthetik